Stefan Aust, Herausgeber der „Welt“, äußert sich öfter zu politischen Themen in der Zeitung. Mit seinen Spiegel-Zeiten hat das nichts mehr zu tun, frei von Klischees ist es trotzdem nicht. Diesmal liegt er jedoch in einem Interview (leider inzwischen hinter der Bezahlschranke) komplett daneben. Es geht um eine verbreitete Unzufriedenheit im Osten, die sich für den Westdeutschen Stefan Aust vor allem in der Wahl der AfD manifestiert.
Ich glaube, es gibt einen anderen Auslöser für die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher – die sehen, dass viele zentrale Posten noch immer bevorzugt mit Westdeutschen besetzt werden. Da ist eine Art Hub- und Schubsystem entstanden, die guten Stellen werden oft quasi weitergereicht an den Nächsten aus dem Westen. Dass das den Leuten auf die Nerven geht, kann ich gut verstehen.
* * *
In der DDR wurde den Menschen eingetrichtert, dass sie immer auf der richtigen Seite der Gesellschaft standen, eine Aufarbeitung der Nazi-Zeit fand bei Weitem nicht so statt wie in der BRD seit den 1960er-Jahren. Deswegen ist die Scheu vor den Rechtsauslegern nicht so groß wie im Westen.
Hier geht es nicht nur um Unzufriedenheit oder, wie Wanderwitz und Co. vermuten, um ein Nichtankommen in der Demokratie. Im Gegenteil, 40 Jahre lang hat man sich nach der Demokratie gesehnt. Aber gerade deshalb ist man sensibel für deren Abbau. Die AfD steht für den richtigen Weg und den Rest der Parteien für den falschen – so einfach stellt sich das inzwischen von hier aus dar. Mit rechts und links hat das nichts zu tun. Es gibt jedoch keine Berührungsängste mit Gedanken, die von „oben“ und aus den Medien wütend bekämpft werden – das vor allem hat man aus der DDR-Zeit gelernt.
Nach 30 Jahren gemeinsamen Weges in Ost und West ist es Ostdeutschen auch inzwischen egal, ob die Führungselite aus dem Osten oder aus dem Westen kommt. Sie gehen, wie die Wessis auch, sowieso davon aus, dass in diesen Kreisen Günstlingswirtschaft vorherrscht. Ob die nun mit Ossis oder mit Wessis beschickt wird, ist nicht von Interesse.
Man wird es bei dem Westdeutschen Hans-Georg Maßen (dem ich einen fulminanten Direkteinzug in den Bundestag zutraue) sehen und man sieht es bei Björn Höcke und anderen Funktionären der AfD, die aus dem Westen kommen. Deren Herkunft ist vollkommen nebensächlich. In diesem Punkt ist die Einheit schon weiter, als Herr Aust meint.
Was die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus betrifft, so transportiert Aust nur einen typischen westlichen Irrtum. Die Aufarbeitung im Westen war nicht so gut, wie dieser meint, und die im Osten nicht so schlecht, wie immer wieder kolportiert.
Die Ablehnung des Nazitums war einer der wenigen Punkte, die an der Schulbildung Ost tatsächlich glaubhaft und wirksam waren. Das gilt nicht nur für mich, sondern auch für die meisten anderen Schüler meiner Generation. Wir haben schon in der vierten Klasse die mit Bulldozern zusammengeschobenen Leichenberge im KZ Buchenwald im Film gesehen. Das war ein Schock zu einer Zeit, in der das Fernsehen praktisch noch keine verrohende Rolle spielte, der mir abends, wenn ich allein war, phobische Angstanfälle verursachte. Nie bin ich in meinem Leben auf die Idee gekommen, mit dem Nationalsozialismus zu flirten. Zumindest in diesem Punkt war die sozialistische Erziehung nachhaltig. Sie wirkte nur dort verheerend, wo sie nicht durchschaubar war: in den Prägungen unterhalb der Bewusstseinsebene.
Die Ablehnung war groß und allgegenwärtig. Unter uns Studenten an der damaligen TH Ilmenau kursierte das (in der DDR verlegte) Buch von Victor Klemperer „LTI“. Lingua tertii imperii – die Sprache des Dritten Reiches. Denn hier kam zur Ablehnung der Naziherrschaft noch die Erkenntnis dazu, dass die DDR sich als totalitäres System derselben Sprache bediente. Wir durchschauten damit den „verordneten Antifaschismus“, wozu auch gehörte, der Bundesrepublik Deutschland ständig Neonationalsozialismus zu unterstellen. Dass tatsächlich Funktionsträger aus der Zeit vor 1945 erfolgreich und zahlreich eine zweite Karriere im Westen machten, blieb uns zwar nicht verborgen, aber die volle Tragweite erkannten wir nicht. Für uns war das DDR-System das faschistoide Feindbild.
Und das wurde als totalitär genauso abgelehnt. Wir waren damals Antifaschisten, weil wir die Nähe der DDR zum Nazireich sahen. Auf die Idee, dass ein Akzeptieren des Nationalsozialismus einen Protest gegen das DDR-Regime ausdrückte, wie es manche Geschichtsschreiber heute in der DDR sehen wollen, in der es wohl auch Neonazis gab, wären wir nie und nimmer gekommen. Ich halte das auch heute noch für unzulässig. Diese Leute hatten gesellschaftlich keinesfalls Bedeutung.
Propaganda mit Nazigedankengut ist noch heute unwirksam, jedenfalls bei dem Teil der Bevölkerung, die es noch gelernt hat, eigene politische Überlegungen anzustellen. Das war in meiner Generation (1950 geboren) bei der Mehrheit der Fall. Hier sieht jeder, der die AfD wählt, dass diese mit den Nazis, über die wir am Schulunterricht umfassend aufgeklärt wurden, nichts zu tun hat. Es mag Unterwanderungsversuche der AfD durch den rechten Rand gegeben haben, dagegen wehrt sich die AfD per Unvereinbarkeitsliste. Die Gleichsetzung von Patriotismus und Nationalismus von Neonazis ist reine Propaganda.
Mit der Naziaufarbeitung in Westdeutschland scheint es allerdings auch nicht so weit her zu sein. Sonst wäre die Akzeptanz der Antifa und anderer gewalttätiger Gruppen nicht so groß. Hier im Osten ist jedenfalls die Erkenntnis, dass diese eine faschistische Diktatur anstreben, Allgemeingut.
Mit sozialistischen Experimenten unter Rotfront-Attitüde hat man hier nichts am Hut. Diese Anmutung hat auch die PDS in den Anfangszeiten des vereinigten Deutschlands geschickt vermieden, indem sie ausschließlich die Ostressentiments und Wendetraumata bediente, die linke Partei entfernt sich allerdings in jüngerer Zeit immer weiter davon, was sie im Osten massiv Stimmen kostet. Die prinzipielle Zustimmung zur Massenmigration tut dann nur noch ein Übriges. Die wird hier zu Recht als Bedrohung empfunden, selbst von traditionell „Linken“.
Es gibt hier auch noch einem tief berwurzelten Stolz auf die eigene Kultur von Bach bis zu Goethe, von Kant bis zu Christa Wolf. Denn das ist etwas, was selbst die SED weder angreifen wollte, noch angegriffen hat. Sie wollte vielmehr eine Art DDR-Nationalstolz entwickeln. Dagegen setzten viele Ostdeutsche gesamtdeutschen Patriotismus, der bis heute wirkt.
Was die Entwicklung weg von der Demokratie des gegenwärtigen Systems betrifft, ist im Osten allerdings eine nach wie vor größere Sensibilität vorhanden. Denn diese Zustände hatten wir 40 Jahre lang, wir sehen jeden Tag, wie Stück für Stück diese Demokratie abgebaut wird und dass der „Kampf gegen Rechts“ eine reine Propagandaveranstaltung zur Durchsetzung eines linksdiktatorischen Gesellschaftsmodells ist. Die wirklichen Nazis heute tragen rote Fahnen.
Die Leser der Welt sehen das ähnlich:


